DPV – alle dabei
DPV – alle dabei?
„Geschlechtergleichstellung erreichen und alle Frauen und Mädchen zur Selbstbestimmung befähigen.“ – So lautet das 5. von 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung (auch SDG: engl. Sustainable Development Goals) die sich die Vereinten Nationen bis 2030 gesetzt haben.
Geschlechtergleichheit bedeutet: Frauen und Männer werden gleichbehandelt. Sie sind gleichberechtigt und haben in allen Lebensbereichen die gleichen Chancen. 2015 wurden die SDGs verabschiedet: Was hat sich seitdem getan in der Welt? Haben wir Geschlechtergleichheit bereits erreicht?
Auf der ganzen Welt sind Frauen und Männer nicht gleichberechtigt. Es gibt sogar Länder, in denen gibt es nicht einmal Gesetze, die Frauen vor Diskriminierung und Gewalt schützen. Das ist in Deutschland anders. Hier sind Frauen und Männer vor dem Gesetz gleichgestellt. Und trotzdem erfahren Mädchen und Frauen auch in Deutschland jeden Tag Diskriminierung. Frauen verdienten 2019 in ihrem Beruf durchschnittlich 19% weniger in einer Stunde als Männer (1). Als Frau hast du deutlich schlechtere Karriere-Chancen als deine männlichen Kollegen (2). Doch es hört nicht auf dem Arbeitsmarkt auf. Frauen sind häufiger von Gewalt betroffen als Männer. Jede dritte Frau in Deutschland erlebt mindestens einmal in ihrem Leben körperliche oder sexuelle Gewalt. 25% der Frauen sind von häuslicher Gewalt betroffen (3). Das sind keine Zahlen, die für Geschlechtergleichheit sprechen.
Wir leben in einer Gesellschaft, die systematisch eine Hälfte der Bevölkerung ignoriert. Wusstet ihr, dass Frauen deutlich häufiger bei Autounfällen sterben als Männer? Die Wahrscheinlichkeit, dass Frauen bei einem Autounfall schwer verletzt werden, ist 47% höher als bei Männern. Woran das liegt? Autos werden für Durchschnittsmenschen mit männlichen Maßen gebaut. Bei Crash-Tests werden männliche Dummys verwendet. Wenn weibliche Dummys zum Einsatz kommen, dann lediglich für Versuche auf dem Beifahrer*innen-Sitz und das auch nur in 20% der Fälle (4). Ähnlich ist es bei Medikamenten: Medikamente werden fast immer an männlichen Versuchspersonen getestet. Der weibliche Körper sei „zu kompliziert“, zu „hormongeladen“ für Studien. Das führt dazu, dass zum Beispiel Medikamente falsch dosiert werden oder Herzinfarkte nicht erkannt werden.4 Und das kann in schlimmen Fällen tödlich enden.
Obwohl Frauen die Hälfte der Weltbevölkerung ausmachen, sind sie in unserer Gesellschaft häufig unsichtbar. Dazu gehört auch unsere Sprache. Meistens wird ausschließlich die männliche Form verwendet, das sogenannte generische Maskulinum. Frauen sind ‚mitgemeint‘. Aber auch wenn Frauen vielleicht mitgemeint sind: Sie werden dadurch nicht automatisch mitgedacht. Es gibt eine psychologische Studie, in der genau dieser Effekt untersucht wurde (5). In der Studie wurden 46 Frauen und 50 Männer untersucht. Ihnen wurde gesagt, dass es um eine Untersuchung zu Unterschieden zwischen Studierenden und Nicht-Studierenden geht. Sie sollten Fragen zu ihren persönlichen Vorlieben und Meinungen beantworten. In sechs Fragen ging es dabei um ihre Lieblings-Romanheld*innen, ihre Held*innen in der Wirklichkeit, ihre Lieblingsmaler*innen, -musiker*innen und -sportler*innen. Um zu untersuchen, ob die Teilnehmenden unterschiedlich antworten, je nachdem welche Geschlechtsform verwendet wird, wurden die Teilnehmenden in drei Gruppen unterteilt. Eine Gruppe erhielt einen Fragebogen, indem alle Fragen im generischen Maskulinum formuliert waren (z.B. „Was ist ihr liebster Romanheld?“). Eine Gruppe erhielt einen Fragebogen, indem alle Fragen geschlechtsneutral formuliert waren (z.B. „Was ist ihre liebste heldenhafte Romanfigur?“). Und eine Gruppe erhielt einen Fragebogen, indem beide Geschlechter genannt wurden (z.B. „Was ist Ihr liebster Romanheld, Ihre liebste Romanheldin?“). In den Gruppen, die entweder geschlechtsneutrale Formulierungen erhielten oder beide Geschlechter genannt wurden, nannten die Teilnehmenden deutlich häufiger weibliche Heldinnen als in der Gruppe des generischen Maskulinums. Das bedeutet: Menschen, die in einem Text nur die männliche Form lesen, denken nicht automatisch daran, dass auch Frauen gemeint sind. Erst wenn durch die Sprache deutlich gemacht wird, dass alle Geschlechter gemeint sind, denken wir auch an alle Geschlechter. Und solange wir weiterhin nur die männliche Form in unserer Sprache verwenden, bleiben Frauen unsichtbar und eben nicht gleichbehandelt.
Um Geschlechtergleichheit zu erreichen, kommen wir also nicht an unserer Sprache vorbei. Denn Sprache macht Gesellschaft. Es ist an uns zu überlegen, in welcher Gesellschaft wir leben möchten: in einer Gesellschaft, in der alle sichtbar sind, oder in einer Gesellschaft, die Menschen mit meint? Genannt zu werden ist in meinen Augen nicht nur eine Formalität, sondern hat auch etwas mit Respekt und Anerkennung zu tun. Wenn Frauen und Mädchen nicht einmal einen Platz in unserer Sprache haben, wie können sie dann einen in der Gesellschaft haben? Warum haben Frauen und Mädchen nicht den gleichen Respekt verdient wie Männer und Jungen? Den Respekt genannt zu werden und sichtbar zu sein.
Allein geschlechtergerechte Sprache löst aber bei weitem nicht alle Probleme. Frauen werden nicht weniger misshandelt, weil wir in Zukunft von Ärzt*innen oder Tischler*innen sprechen. Frauen werden nicht häufiger befördert, weil die Stelle nun Geschäftsführer*in genannt wird. Aber Frauen werden dadurch stärker gesehen. Und das ist ein erster wichtiger Schritt zu Geschlechtergleichheit.
Die Frage des Genderns führt mich auch immer wieder zu uns Pfadfinder*innen zurück. Welche Gesellschaft möchten wir mitgestalten? Für welchen Weg entscheiden wir uns? Wir wollen unsere Mitglieder zu selbstbestimmten Bürger*innen erziehen. In unserer Arbeit wollen wir alle Geschlechter berücksichtigen. Warum machen wir das nicht in unserer Sprache? Ist es nicht an der Zeit darüber ins Gespräch zu kommen und umzudenken? Wie können wir sagen, dass wir uns für alle Kinder und Jugendlichen einsetzen wollen, wenn auch wir die Hälfte unserer Mitglieder in unserer Sprache ignorieren? Es ist nicht leicht, altbewährtes zu verändern. Der Mensch ist nicht umsonst ein Gewohnheitstier. Aber ich glaube, es ist schon lange überfällig unsere Gewohnheiten einmal ordentlich aufzurütteln und uns zu überlegen, wofür wir als Pfadfinder*innen stehen möchten.
von Sarah Wüllner
mit Grüßen vom AK Wendehammer
1 Pressemitteilung Nr. 484 des Statistischen Bundesamts vom 08.12.2020: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/12/PD20_484_621.html.
2 Statistisches Bundesamt. https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Qualitaet-Arbeit/Dimension-1/frauen-fuehrungspositionen.html. entnommen am 19.12.2020.
3 Bundeskriminalamt (2020). Kriminalstatistische Auswertung – Berichtsjahr 2019.
4 Caroline Criado-Perez (2020). Unsichtbare Frauen – Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert. btb – Verlag.
5 Stahlberg, D., Sczesny, S., and Braun, F. (2001). Name Your Favourite Musician:Effects of Masculine Generics and of their Alternatives in German. Journal of Language and Social Psychology, 20, 464 – 469.